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Dr. Anne-Catherine Hahn

Dr. Anne-Catherine Hahn im Porträt

"Man sollte sich nicht vom Urteil anderer abhängig machen."

Dr. Anne-Catherine Hahn, Partnerin bei IPrime Legal in Zürich, über ihren Weg von der Grosskanzlei in eine Boutique, Kommunikation in einem männlich geprägten Umfeld und die Bedeutung von Netzwerken.  

Frau Hahn, Sie sind als Wirtschaftsanwältin in internationalen Handelsstreitigkeiten vor allem im Bereich Life Sciences und Technologie tätig und übernehmen auch Mandate als Schiedsrichterin und Mediatorin. Zudem beraten Sie Klienten in Compliance-Fragen. Wie sind Sie zu dieser professionellen Ausrichtung gekommen?

 

Das ist das Ergebnis einer Entwicklung und hat sich aufgrund meiner Interessen und der Chancen, die sich mir geboten haben, so ergeben.

Das Interesse am Umgang mit Konflikten hat sich während meines Studiums herausgebildet und mich während meiner juristischen Laufbahn weiter begleitet; insofern war es naheliegend, dass ich im Bereich Streitbeilegung tätig wurde. Zunächst habe ich das vor allem als Parteivertreterin getan, z.B. im Rahmen von post-M&A und anderen wirtschaftsrechtlichen Streitigkeiten. Mit der Zeit hat mich dann immer mehr interessiert, was die Parteien eigentlich erreichen wollen und wie sie ihre eigentlichen Anliegen möglichst effizient, unter Vermeidung von Kollateralschäden, erreichen können. Das zu verstehen und zum Kern des Problems vorzudringen, ist mein Ziel, wenn ich als Schiedsrichterin oder Mediatorin tätig bin, aber auch, wenn ich Klienten im Rahmen von Auseinandersetzungen oder bei der Aufarbeitung von Problemen im Compliance-Bereich begleite. Diese Blickweise passt gut zum Life Sciences- und Technologie-Bereich, weil dort zukunftsgerichtete Lösungen oft besonders wichtig sind, z.B. weil es einen beschränkten Zeithorizont gibt, um ein Produkt auf den Markt zu bringen.

Bevor Sie 2019 zu IPrime Legal gewechselt sind, waren Sie bei Baker McKenzie in Zürich Substitutin, Anwältin und zuletzt sieben Jahre lang Partnerin. Worin unterscheidet sich die tägliche Arbeit in einer grossen Wirtschaftskanzlei im Vergleich zu einer Boutique?

Die kommerziellen Rahmenbedingungen haben sich geändert. Ich war während mehr als 15 Jahren Teil einer weltweit tätigen Kanzlei, die sich selbst als "transactional powerhouse" sieht; jetzt sind wir sechs Partner in Zürich. Dadurch, dass ich nicht mehr Teil einer grossen Struktur bin, habe ich viel mehr Freiheit in der Auswahl von Mandaten. Für eine unabhängige, kleine Kanzlei spielen Interessenkonflikte eine viel, viel kleinere Rolle als für eine Grosskanzlei, und es ergeben sich andere Möglichkeiten für Kooperationen.

Ein weiterer Unterschied besteht bezüglich der Entscheidungswege, die viel kürzer sind. Unsere Kanzlei besteht erst seit drei Jahren, d.h. man kann auf viele Abläufe noch Einfluss nehmen, z.B. was den Einsatz von Technologie betrifft; man muss sich aber umgekehrt auch stärker um operative Themen aktiv kümmern.

Der für mich wichtigste Faktor ist vermutlich, dass die Mandatsbeziehungen persönlicher geworden sind. Man wird anders wahrgenommen. In einer Kanzlei wie Baker McKenzie, deren Name weltweit bekannt ist, erhält man als junge Anwältin einen Vertrauensvorschuss. Der Klient setzt primär auf die Organisation und kann sich durch die Wahl eines bekannten Namens intern bis zu einem gewissen Punkt auch absichern. Teil einer solchen Struktur zu sein, bietet viele Chancen; es bedeutet tendenziell aber auch, dass der einzelne Anwalt oder die einzelne Anwältin in den Hintergrund rückt. Das ist in einer Boutique wie IPrime klar anders: Die Klienten kommen, weil sie auf die Expertise bestimmter Anwälte Wert legen und eine persönliche Betreuung suchen. Dementsprechend arbeite ich heute für weniger Klienten als früher, dafür aber regelmässiger für dieselben Unternehmen und Personen. Ich bin näher an die Entscheidungsträger herangerückt und, aufgrund unserer fachlichen Ausrichtung, ebenfalls näher an ihre Produkte und Technologien.

IPrime Legal ist spezialisiert auf IP-Recht und viele Ihrer Kollegen sind Patentanwälte mit einer Erstausbildung als Ingenieure oder Naturwissenschaftler. Macht sich dieser unterschiedliche fachliche Hintergrund in der Zusammenarbeit bemerkbar?

Ja, das ist für mich sehr hilfreich, denn ich habe dadurch Zugang zu breitem technischem Know-how, was mir hilft, wenn es um Streitigkeiten oder Compliance-Themen im Technologiebereich geht. Unser Ziel ist es, die Bedürfnisse von Klienten in den Bereichen Technologie, Recht und Compliance möglichst umfassend abzudecken, u.a. gestützt auf das Wissen in IT und verschiedenen naturwissenschaftlichen Disziplinen, das die Patentanwälte mitbringen. Wir sehen hier noch viel Potenzial. Abgesehen davon ist für mich persönlich eine Struktur, die ein starkes Standbein in der Verwaltung von Schutzrechten hat, auch deshalb interessant, weil es hier oft stabile Mandantenbeziehungen gibt, während man im Bereich Dispute Resolution oft nur für einen bestimmten Fall hinzugezogen wird.

Welche Eigenschaften braucht es Ihrer Ansicht nach für Tätigkeiten im Bereich Streitschlichtung, sei es als Parteivertreterin, Schiedsrichterin und Mediatorin?

Ich glaube die Fähigkeiten, die man für diese drei Rollen benötigt, sind gar nicht so unterschiedlich. Es geht zunächst einmal darum, Probleme rechtlich einzuordnen und den relevanten Sachverhalt aufzuarbeiten. Ausserdem muss man sich in die Parteien hineinversetzen können und ihre Interessen verstehen. Neben intellektuellen Fähigkeiten braucht es sicherlich Empathie und eine gewisse Menschenkenntnis. Als Parteivertreterin muss ich mich immer wieder fragen, was die Gegenseite erreichen will, oder welche Aspekte dem Gericht besonders wichtig sein könnten; in der Rolle als Schiedsrichterin oder Mediatorin geht es, neben der Organisation und Führung des Verfahrens, darum, Verständnis dafür zu wecken, dass sich der Fall von aussen betrachtet möglicherweise etwas anders darstellt, als die Parteien annehmen. Bei all dem geht es auch sehr viel um Kommunikation. Selbstverständlich müssen die juristischen Aspekte, z.B. in Eingaben, handwerklich sauber abgedeckt werden, aber mindestens ebenso wichtig ist es, glaubwürdig zu erscheinen und darzulegen, dass man ein legitimes Anliegen vertritt. Oft stellen sich die Dinge bei näherer Betrachtung nicht so schwarz/weiss dar, wie man vielleicht auf den ersten Blick meinen könnte, und es geht darum, das herauszuarbeiten und zu vermitteln. Diese Kombination ist es denn auch, die Tätigkeiten in diesem Bereich m.E. so spannend macht.

Sie haben an der Universität Fribourg Ihren Doktortitel erworben und unterrichten dort seit vielen Jahren. Zudem publizieren Sie regelmässig. Was gefällt Ihnen an der wissenschaftlichen Arbeit und welchen Wert hat für Sie das Verfassen einer Dissertation in der heutigen Zeit? 

Einerseits muss man sich immer weiterbilden; das gehört einfach zu diesem Beruf. Wissenschaftliches Arbeiten kann dabei helfen, weil man sich mit einem Thema vertieft auseinandersetzt und den Blick auch etwas stärker auf das "big picture" richten kann. Andererseits trägt das wissenschaftliche Arbeiten zur eigenen Visibilität bei und kann ein Weg sein, Expertise in einem bestimmten Bereich zu demonstrieren. 

Eine Dissertation ist aus meiner Sicht nach wie vor ein relevanter Leistungsausweis. Ich habe Respekt davor, wenn jemand selbstständig ein Thema bearbeitet und zum Abschluss bringt und sehe das vor allem als Nachweis einer gewissen Begeisterungsfähigkeit und Hartnäckigkeit. Das sind Fähigkeiten, die für die Anwaltstätigkeit hilfreich sind; das heisst aber natürlich nicht, dass man nur mit einem Doktortitel Karriere in der Anwaltschaft machen kann.

Frau Hahn, Sie wurden bei Baker McKenzie Zürich als erste Frau zur Partnerin ernannt. Weibliche Vorbilder gab es zumindest im Zürcher Büro damals nicht. Was oder wer hat Sie motiviert?

Da haben verschiedene Faktoren mitgespielt. Erstens habe ich sehr viel von den damaligen Partnern und meinem ganzen Umfeld lernen können ‒ in juristischer Hinsicht, aber auch bezüglich Themen wie Strategie, Kommunikation und Business Development. Ausserdem war die Arbeitsatmosphäre sehr motivierend. Über alle Senioritätsstufen hinweg bestand der Anspruch, hohen Qualitätsansprüchen zu genügen, und zwar in einem sehr offenen Klima. Dass ich irgendwann mehr Verantwortung übernehmen und nicht nur unterstützend tätig sein wollte, hat sich dann nach einigen Jahren abgezeichnet, und die bestehenden Partner und mein Umfeld haben mich in diesem Wunsch bestärkt. Geholfen hat dabei sicherlich auch, dass die Voraussetzungen und Prozesse für die Aufnahme in die Partnerschaft transparent und fair waren.

Bei Baker McKenzie und auch bei IPrime Legal war bzw. ist Ihr kollegiales Umfeld weitgehend männlich. Gibt es Erfahrungen, die Sie speziell in diesem Umfeld gemacht haben?

Der "Schock" kam eigentlich ganz am Anfang, als ich nach dem Studium als Substitutin bei Baker McKenzie eingestiegen bin. Im Studium und am Lehrstuhl gab es immer Frauen, die sichtbar und leistungsstark waren. Bei meinem Eintritt als Substitutin bei Baker McKenzie war am Anfang hingegen keine einzige Juristin tätig. Das war auf jeden Fall gewöhnungsbedürftig. Dass es in vielen ausländischen Büros von Baker McKenzie deutlich mehr Frauen gab, vor allem auch auf Partnerstufe, ist mir erst später wirklich bewusst geworden, als ich schon Partnerin bzw. dann auch Mitglied des europäischen Steering Commitees für den Bereich Dispute Resolution war.

Was man in einem solchen Umfeld relativ schnell lernt, ist, dass man sich klar ausdrücken muss, um Gehör zu finden. Man gewöhnt sich an einen direkten Umgangston; man lernt eine gewisse Coolness und man lernt auch, dass die Bereitschaft, anderen zuzuhören und auf sie zuzugehen, von der Einstellung und der geistigen Offenheit der jeweiligen Person und nicht vom Geschlecht abhängt - das ist im Übrigen eine Erkenntnis, die auch in der Mandatsarbeit hilft, z.B. im Umgang mit Parteien aus anderen Kulturkreisen.

Sie sind auch Präsidentin der Schlichtungskommission des ETH-Bereichs für Streitigkeiten im Rahmen des Gleichstellungsgesetzes. Was für Streitfälle behandeln Sie vorwiegend und wie aussichtsreich sind Schlichtungsverfahren in solchen Fällen?

Die Schlichtungskommission kann angerufen werden, wenn Ansprüche gemäss Gleichstellungsgesetz im Zusammenhang mit Anstellungsverhältnissen der ETH und EPFL sowie vier weiterer Forschungsinstitutionen im Raum stehen. Die Fälle müssen also einen personalrechtlichen Hintergrund haben, und es muss um eine geschlechtsbedingte Diskriminierung gehen, z.B. betreffend Anstellung, Kündigung oder Beförderung. Aufgabe der Schlichtungskommission ist es, in solchen Fällen zu vermitteln; sie hat keine Entscheidungskompetenzen.

Die Institutionen des ETH-Bereichs bewegen sich in einem sehr kompetitiven Umfeld; es gibt nur eine begrenzte Anzahl von Professorenstellen, und es treffen Wissenschaftler aus der ganzen Welt und unterschiedlichen Generationen aufeinander. Dem ETH-Rat und den einzelnen Institutionen ist sehr daran gelegen, Diskriminierung zu vermeiden, aber dass es in einem solchen Umfeld Diskussionen um Ungleichbehandlungen geben kann, ist kaum überraschend. Da die Kommission erst seit März 2020 besteht, kann ich zur Erfolgsquote noch nichts sagen, aber ich hoffe sehr, dass wir einen relevanten Beitrag zur Lösung von Konflikten leisten können. Für mich persönlich ist die Rolle als Präsidentin sehr spannend, aufgrund der ich Einblicke in eine komplexe Organisation bekomme, aber auch weil es innerhalb der paritätisch besetzten Kommissionen natürlich unterschiedliche Sichtweisen gibt. 

Wie lässt sich erkennen, ob ein Lohnunterschied zwischen einem Mann und einer Frau mit gleichwertigen Qualifikationen auf eine geschlechtsbedingte Diskriminierung oder lediglich auf, zum Beispiel, "schlechtere Verhandlungsfähigkeiten" der einen Person zurückzuführen ist?

Ich glaube, die entscheidende Frage ist, nach welchen Kriterien die Gleichwertigkeit von Funktionen beurteilt wird, und inwiefern darüber Verhandlungen zugelassen werden.

Studien belegen, dass Frauen im Durchschnitt weniger hart als Männer um ihren Lohn verhandeln. Dabei spielt eine Rolle, dass viele Frauen in solchen Situationen vor einem Sympathieverlust zurückschrecken und sich stärker zurücknehmen, um nicht als aggressiv wahrgenommen zu werden. Es gibt aber auch Belege dafür, dass Frauen mindestens gleichwertige Verhandlungsergebnisse erreichen, wenn sie für Dritte verhandeln, weil ein Sympathieverlust dann keine Rolle spielt; ausserdem geben immer mehr Frauen, gerade weil das Thema bekannt ist, bewusst Gegensteuer.

Vor diesem Hintergrund müssen sich Organisationen m.E. die Frage stellen, worüber überhaupt Verhandlungen zugelassen werden, und wie diese ausgestaltet bzw. moderiert werden sollten. Bei Berufseinsteigern gibt es ja in der Regel kaum Lohnverhandlungen; hingegen spielen sie eine Rolle bei der Anstellung von Kandidaten mit Berufserfahrung und auch bei Beförderungen. Hier geht es darum, transparente und faire Prozesse zu schaffen, angefangen von der Art und Weise, wie Kandidatenpools zusammengestellt werden, und den Informationen, die den Kandidaten vorab über den möglichen Verhandlungsspielraum gegeben werden. Durch Massnahmen in diesem Bereich können Organisationen Vertrauen auf Seiten der Bewerber/-innen und Arbeitnehmer/-innen schaffen und systematische Benachteiligungen in Verhandlungen reduzieren. 

In unserem Vorgespräch haben Sie erwähnt, dass Sie über die Jahre mit vielen sehr guten Juristinnen zusammengearbeitet haben, diese sich dann aber früher oder später gegen eine Karriere in einer Wirtschaftskanzlei entschieden haben. Was sind Ihrer Ansicht nach die Gründe hierfür?

Ein genereller Grund, der auch Männer betrifft, ist sicherlich, dass eine Karriere in einer Grosskanzlei weniger planbar ist als früher. Viele junge Juristinnen und Juristen sehen Grosskanzleien heute als Ausbildungsort und Sprungbrett für andere Tätigkeiten. Nach meiner Wahrnehmung befassen sich viele Frauen - aus meiner Sicht zu Recht - schneller als ihre männlichen Kollegen mit der Frage, ob eine Wirtschaftskanzlei für sie der richtige Ort ist, vor allem auch im Hinblick auf die Vereinbarkeit von Beruf und Familie.

Dazu kommt, dass die Alternativen zur Tätigkeit in einer Grosskanzlei vielfältiger und attraktiver als früher sind. Boutique-Strukturen, die es mittlerweile in vielen Schattierungen gibt, bieten flexiblere Arbeitsbedingungen und oft auch interessante Entwicklungsmöglichkeiten. Ausserdem sind die in-house Tätigkeiten viel breiter geworden. Als in-house Jurist ist man heute oft von Anfang an in Projekte, z.B. im Bereich Digitalisierung, eingebunden und kann u.U. später auch Aufgaben ausserhalb der Rechtsabteilung übernehmen. In vielen Unternehmen sind auf allen Hierarchie- und Altersstufen mehr Frauen tätig als in Kanzleien, was es wiederum für Frauen attraktiv macht, in ein solches Umfeld zu wechseln. Gleichzeitig sind es aber auch die Klienten, die Veränderungen in den grossen Kanzleien anstossen, indem z.B. reine Männerteams für Projekte oder für Panelzulassungen nicht mehr akzeptiert werden. Insofern erstaunt nicht, dass alle Wirtschaftskanzleien heute grosse Anstrengungen unternehmen, um Frauen halten zu können.

Ein oft genannter Grund sind die langen und wenig flexiblen Arbeitszeiten. In der aktuellen Pandemielage sind nun aber Homeoffice und Kommunikation über Videokonferenzen zur Realität geworden. Ist dies eine Chance für flexiblere Arbeitsstrukturen in Kanzleien?

Ich denke schon. Man hat sich daran gewöhnt, dass nicht alle am selben Ort oder zur selben Zeit tätig sein müssen, um produktiv zu arbeiten und Dinge voranzutreiben. Das Homeoffice hat aber seine Grenzen. Es ist sehr gut geeignet, wenn es darum geht, konzentriert, z.B. an einem Text, zu arbeiten, und es lässt sich auch für Arbeiten im Team einsetzen, wenn die jeweilige Gruppe schon vorher zusammengewachsen ist und sich immer einmal wieder persönlich trifft. Aber wenn der "soziale Kitt" fehlt, ist es schwieriger. Für einen Berufseinstieg oder Jobwechsel sind Homeoffice-Lösungen nicht ideal, denn man lernt in jeder neuen Organisation doch sehr viel auch nur schon durch Beobachtung oder durch den informellen Austausch an der Kaffeemaschine. Ausserdem bedeutet Homeoffice nicht, dass man weniger arbeitet; im Gegenteil kann es die Erwartung der jederzeitigen Erreichbarkeit verstärken. Und schliesslich muss man sich bewusst sein, dass das Homeoffice aus Unternehmenssicht nicht unbedingt in der Schweiz liegen muss; auch für juristische Berufe ist das Risiko von Standortverlagerungen heute real.

Oft wird gesagt, dass Frauen sich stärker exponieren müssen und zum Beispiel einfordern sollen, wenn sie eine bestimmte Aufgabe übernehmen oder eine Beförderung möchten. Was halten Sie von dieser Aussage und wie kann frau sich sichtbarer machen?
 

Aus meiner Sicht muss man auf jeden Fall zeigen, dass man mit komplexen Fragestellungen und auch mit schwierigen Situationen umgehen kann, wobei ich sagen würde, dass das für Frauen wie für Männer gleichsam gilt. In allen Organisationen gibt es dafür Möglichkeiten; in Anwaltskanzleien sowohl im Rahmen der Mandantenarbeit als auch bei wichtigen internen Projekten. Der Vorteil bei der Mandantenarbeit ist, dass es hier in der Regel Feedback von aussen gibt, und gutes Feedback ebenfalls intern wahrgenommen wird. Zu dem „Sich Exponieren“ gehört für mich aber auch, dass man ein Gefühl dafür entwickelt, wofür man andere einbinden sollte. Man muss ein Gespür dafür bekommen, wen man vielleicht ins Boot holen sollte, damit eine Initiative intern Unterstützung findet - vor allem auch dann, wenn der Ausgang ungewiss ist. Und schliesslich gehört zum "Sich Exponieren" auch, dass man lernt, mit Rückschlägen umzugehen.

Networking gilt als zentrales Instrument für die Karriereentwicklung. Wie baut man sich erfolgreich ein Netzwerk auf und wie wichtig sind Ihrer Meinung nach reine Frauennetzwerke?
 

Ich glaube, man muss das Netzwerken innerhalb und ausserhalb der eigenen Organisation unterscheiden. Intern ist sicher wichtig zu wissen, auf wessen Rat und Unterstützung man sich verlassen kann. Dazu gehören Mitglieder der eigenen “Peer Group“; es geht aber auch um Mentoren auf höheren Senioritätsstufen. Externes Networking ist zentral, wenn man einen beruflichen Wechsel plant oder wenn man die eigene Visibilität erhöhen will. Dabei sollte man Prioritäten setzen, um sich nicht zu verzetteln. Belastbare berufliche Beziehungen, sowohl intern als auch extern, entstehen nach meiner Wahrnehmung vor allem aufgrund von geteilten Erfahrungen. Vor allem in stressigen oder schwierigen Situationen realisiert man, auf wen man sich verlassen kann, und das schweisst über die konkrete Situation hinaus zusammen.  

Frauennetzwerke finde ich insofern nützlich, als der Zugang oft leichter als bei anderen, seit langem etablierten Netzwerken ist, aber auch hier kommt es aus meiner Sicht weniger auf die Anzahl als auf die Qualität der Kontakte an. Gut ist sicherlich, wenn man, wie Sie das jetzt mit breaking.through tun, etwas Eigenes auf die Beine stellt. Bei Baker McKenzie haben wir während fünf Jahren "Women Executive Events" organisiert, als das noch ein relativ neues Thema war. Wir haben bekannte und unbekannte Referentinnen aus ganz unterschiedlichen Bereichen eingeladen und ihnen völlige Freiheit in der Wahl des Themas gelassen - Voraussetzung war nur, dass sie über etwas sprechen, das ihnen persönlich wichtig ist. Das hat wirklich gut funktioniert und extern wie intern viel positives Feedback ausgelöst. Viele der Teilnehmerinnen haben sich dann untereinander vernetzt, und ich glaube, auch für die jüngeren Anwältinnen der Kanzlei, die wir alle eingeladen haben, waren diese Anlässe eine gute Erfahrung.

 

Was für einen Rat würden Sie jungen Juristinnen geben, die gerne Partnerin in einer Wirtschaftskanzlei werden möchten?
 

Die Partnerschaft in einer Wirtschaftskanzlei ist, unabhängig von der Grösse, mit einem erheblichen persönlichen Engagement verbunden und gleichzeitig eine Aufgabe, die sich immer wieder wandelt und an der man wachsen kann.

 

Man sollte die Zeit als Associate nutzen, um in fachlicher Hinsicht von erfahrenen Kollegen zu lernen und sich ein Bild von der Organisation und den dahinterstehenden Leuten zu machen. Man sollte sich auch darüber Gedanken machen, in welche Richtung sich die Bedürfnisse der Kanzlei bzw. der Klienten entwickeln, um gestützt darauf einen eigenen Business Case entwickeln zu können, und dann vor allem die Chancen ergreifen, die sich bieten - im Wissen, dass man aus einer Partnerschaft auch wieder austreten kann, wenn es nicht passt.

Vielleicht noch wichtiger aber finde ich, dass man eine konstruktive, zugleich aber gelassene Haltung im Umgang mit den eigenen und fremden Ansprüchen entwickelt. Ratschläge und Kritik können helfen, sich weiterzuentwickeln und sich zu verbessern, aber man sollte sich nicht vom Urteil anderer abhängig machen.    

Welche Juristin hat Sie so inspiriert, dass sie als Vorbild für breaking.through nominiert werden sollte und wieso?
 

Ich kenne viele Juristinnen, die in unterschiedlichen Funktionen "ihre Frau" stehen, Verantwortung im Beruf übernehmen und sich gleichzeitig immer wieder neu bemühen, die Erwartungen, die sie selbst und andere an sie stellen, miteinander in Einklang zu bringen; Vorbilder gibt es meines Erachtens also längst nicht nur im Top Management oder in anderen herausragenden Positionen. Ich möchte drei Frauen nennen, die in unterschiedlichen Bereichen tätig sind, aber gemeinsam haben, dass sie, abgesehen von ihren ausgewiesenen fachlichen Qualitäten, Herausforderungen mit Energie und Hartnäckigkeit angehen und sich selbst dabei treu bleiben:

  • Prisca Schleiffer Marais, Gerichtsschreiberin am Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich;

  • Efstathia Gkika, Data Privacy Officer EMEA bei Baxter;

  • Diana Akikol, Partnerin bei Walder Wyss im Bereich Schiedsgerichtsbarkeit.

Vielen Dank für das Gespräch und die Zeit, die Sie sich dafür genommen haben!

Zürich, 23. Juni 2020. Das Interview führte Nadine Pfiffner.

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