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Prof. Dr. Monika Pfaffinger

Prof. Dr. Monika Pfaffinger im Porträt

"Dass sich meine Forschungsarbeit unmittelbar auf die Schweizer Gesetzgebung auswirken würde, hätte ich nicht zu träumen gewagt."

Prof. Dr. Monika Pfaffinger, Privatdozentin und Inhaberin von MP *only connect* über was sich im Datenschutzrecht ändern muss, ihren Umgang mit Hürden und was sie jungen Akademiker*innen auf den Weg geben will.

Frau Prof. Pfaffinger, im Dezember 2022 ist Ihre 800-seitige Habilitationsschrift "Das Recht auf informationellen Systemschutz. Plädoyer für einen Paradigmenwechsel im Datenschutzrecht" erschienen. Worum geht es in dieser rechtswissenschaftlichen Studie?

Die zentrale These des Buchs lautet, dass wir das Datenschutzrecht neu denken müssen, dass wir einen Paradigmenwechsel brauchen. Ich versuche, es kurz zu erklären: Das derzeitige Datenschutzrecht ist, trotz zwischenzeitlicher Anpassungen, ein Recht der analogen Welt. Denn unter Datenschutz wird noch immer der Schutz der Daten von einzelnen Subjekten verstanden, wobei der Begriff der Daten objekthaft sowie mehr oder minder isoliert von anderen Dingen und Bereichen gedacht wird. In einer digitalen Welt ist aber nun einmal alles mit allem vernetzt, auch und insbesondere Daten. Ein in unserer digitalen Welt funktionierendes Datenschutzrecht muss daher auf Datenflüsse und insbesondere den Transfer von Datenströmen zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen fokussieren. Mit anderen Worten, das Datenschutzrecht muss kontextbezogen konzipiert sein. Das ist gemeint, wenn ich sage, dass wir einen Paradigmenwechsel brauchen und das Datenschutzrecht als ein Recht auf informationellen Systemschutz verstehen müssen.

Aktuell sind wir noch immer im Subjekt-Objekt-Dualismus des Rechts der analogen Welt verhaftet, doch dieses Paradigma greift zu kurz. Bei der Analyse der relevanten Quellen – Urteile, rechtswissenschaftliche Beiträge verschiedener Rechtskreise, aber auch historische Texte und Literatur – wurde mir klar, dass wir das Datenschutzrecht nur dann sinnhaft gestalten können, wenn wir den Realitäten und Herausforderungen der digitalen Welt ins Auge blicken und einen entsprechenden Paradigmenwechsel vollziehen. Wir müssen das Thema aus unterschiedlichen, alten und neuen Perspektiven betrachten. Denn oft sucht man an der falschen Stelle, bleibt in tradierten Konzepten hängen, eingefahrenen Denk- und Sichtweisen verhaftet. Die Kunst der Wissenschaft ist es, Grenzen zu überschreiten, sich in den Zwischenräumen aufzuhalten, Neuland zu betreten, den horror vacui zu ertragen, mutig und kreativ sowie zugleich analytisch zu sein. Wichtig im Sinne des "educated guess" ist auch anzuerkennen, dass innovative Elemente oft bereits subkutan angelegt sind. Was ich meine, ist, dass Ansätze nicht immer gänzlich neu erfunden werden müssen; oft geht es vielmehr darum, implizites, tradiertes Wissen auszuheben, um die darin angelegten Erkenntnisse und Einsichten herauszuschälen und für aktuelle Herausforderungen fruchtbar zu machen. So zeige ich im ersten Teil meiner Habilitationsschrift mit Bezug auf historische Texte und Literatur, dass es bei Personendatenerfassungen nie um einzelne Subjekte, sondern seit jeher um Informationsflüsse zwischen verschiedenen Bereichen der Gesellschaft ging. Gegenstand des Datenschutzes waren also nie isolierte Daten resp. Datensubjekte, sondern Datenflüsse in einer pluralistisch strukturierten Datentopografie. Im zweiten und dritten Teil arbeite ich dann in Auseinandersetzung mit dem DSG die Funktionsweise des gegenwärtigen Datenschutzrechts samt seiner Voraussetzungen, Implikationen und Schwachpunkte heraus, um zu zeigen, dass dieser Ansatz der Komplexität der Gegebenheiten in modernen Gesellschaften nicht (mehr) gerecht wird und entsprechend durch Regelungen für den Fluss von Personendaten innerhalb und insbesondere zwischen pluralen gesellschaftlichen Bereichen ersetzt werden muss. Kurz, wir müssen vom Paradigma des informationellen Subjektschutzes zum Paradigma des informationellen Systemschutzes übergehen.

Wie sind Sie auf dieses Forschungsthema gekommen und wie ist es gelungen, einen wirklich neuen Regelungsansatz zu präsentieren? 

Das Thema interessiert mich schon lange, und für Zivilrechtlerinnen wie mich ist die Auseinandersetzung mit dem Datenschutzrecht auch naheliegend, denn es knüpft unmittelbar an zwei für uns zentrale Rechtskategorien an: zum einen an den Persönlichkeitsschutz und zum anderen an das Eigentum resp. das Sachenrecht. Bereits in meiner Dissertation "Geheime und offene Formen der Adoption. Wirkungen von Information und Kontakt auf das Gleichgewicht im Adoptionsdreieck" habe ich mich mit informationsrechtlichen Fragen befasst, genauer gesagt mit einem Thema des Familieninformationsrechts. Meiner Habilitationsschrift liegt ein spezifisches Paradoxon bezüglich der Datenschutzthematik zugrunde: Während in den Medien sehr aufgeregt über Datenschutz debattiert wird, wurde das Thema wissenschaftlich gesehen über lange Zeit hinweg vernachlässigt. Das hat mich hellhörig gemacht, und weil Fragen über die Auswirkungen neuer Technologien auf das Recht mich schon immer fasziniert haben, lag das Thema Datenschutz alsdann auf dem Tisch.

 

Können Sie uns erzählen, wie dieses "opus magnum" entstanden ist?

 

Die Arbeiten an dem Buch begannen vor mehr als zehn Jahren. Wie gesagt hatte das Thema Datenschutz zu jener Zeit in der Schweiz nicht die in Breite und Tiefe gebotene Aufmerksamkeit erfahren. Das hat sich inzwischen zwar spürbar geändert, aber es war ein weiter Weg. Sowohl professionell als auch privat betrachtet entstand das Buch zu einer Zeit, die von vielen Veränderungen geprägt war. Ich hatte eine befristete Stelle als Assistenzprofessorin an der Universität Luzern inne und war Vizepräsidentin der Eidgenössischen Koordinationskommission für Familienfragen. Ich wurde Mutter, wodurch sich mir eine gänzlich neue Lebenswirklichkeit eröffnete, und beruflich gab es infolge meines Wechsels in die Privatwirtschaft und in die Selbständigkeit ebenfalls grosse Veränderungen. 

Zeitgleich zu diesen privaten Umbrüchen kam es auch in der Wissenschaft zu einschneidenden Veränderungen. In den Jahren der Entstehung des Buchs sahen wir uns zunehmend mit neuen technologischen und ökonomischen Realitäten konfrontiert, die eine Intensivierung und Professionalisierung in der Auseinandersetzung mit der Materie unausweichlich gemacht haben. Auf rechtlicher Ebene kam es infolge dieser Entwicklungen zu tiefgreifenden Anpassungen des Datenschutzrechts, die sich in der Schweiz in der Totalrevision des DSG und auf europäischer Ebene in der DSGVO manifestierten. Wissenschaftlich gesehen sind diese Anpassungen aber nicht tiefgreifend genug – so jedenfalls die These, die ich in meinem Buch entwickle und verteidige. 

Die Niederschrift hat sich also in einem gesellschaftlich und wissenschaftlich dynamischen und facettenreichen Milieu während einer privat überaus arbeitsintensiven Schaffensphase realisiert. Dieser weite Bogen dürfte heute auch als ein positives Charakteristikum des Werks und dieser Lebensphase verstanden werden.

Sie haben in Zürich studiert und das Anwaltspraktikum gemacht. Warum haben Sie sich entschlossen, im Anschluss eine Doktorarbeit zu schreiben und zu habilitieren?

Prägend waren für mich schon immer meine Vitalität und meine Faszination für viele Facetten des Lebens. Beides hat mein Wirken in sämtlichen Feldern, in denen ich aktiv bin, immer massgeblich beeinflusst. Ich tauche gerne in Dinge ein, bin neugierig, will mitgestalten und Neuland betreten. Diese Vielseitigkeit und Begeisterungsfähigkeit ist einerseits ein Reichtum, andererseits stellen beide einen aber auch vor grosse Herausforderungen. An bestimmten Weggabelungen in seinem Leben muss man daher bewusste und strategische Entscheidungen treffen; bei anderen Entscheiden lasse ich mich von meiner Intuition leiten, und wieder andere Dinge ergeben sich einfach, fügen sich. Insofern war und ist der "educated guess" nicht nur in der wissenschaftlichen Arbeit, sondern auch im privaten Leben ein valables Leitkriterium. Man muss das Unplanbare zwar immer als Gegebenheit des menschlichen Lebens hinnehmen, aber zugleich erkennen, wenn sich einem eine Chance bietet. Dann muss man offen und flexibel genug sein, um die Gelegenheit beim Schopfe zu packen.

 

So war das auch bei meiner Dissertation und meiner Habilitation. Hier an der Universität Zürich habe ich mich zwar am feu sacré der Juristerei angesteckt; dass ich promovieren würde, war aber keine vorgegebene oder absehbare Entwicklung, sondern eine sehr persönliche Entscheidung, die nicht nur meinen Neigungen und Begabungen entsprach. Nach über dreizehn Jahren schwerer Krankheit war meine Mutter am Ende meines Studiums verstorben; eine lebensformende Erfahrung. Nach dem Universitätsabschluss hatte ich dann mehrere Angebote von verschiedenen Lehrstühlen. Das war reizvoll. Zugleich war mir aber auch bewusst, dass eine Dissertation mir einen Schon- und Denkraum für meine Faszination für die grossen und allgemeinen Herausforderungen im Recht bieten würde; dass ich nur in diesem Rahmen den drängenden gesellschaftlich relevanten Fragen so nachhaltig auf den Grund gehen könnte, dass ich anschliessend auch einen Impuls zur Weiterentwicklung des Rechts im Interesse der Betroffenen geben könnte. Derselbe Wunsch brachte mich später dazu, zu habilitieren.

Worin sehen Sie die Vorteile einer akademischen Laufbahn?

In der Rechtswissenschaft denkt man darüber nach, welche Normen wir – eingebettet in Entwicklungen von Gesellschaft, Technologie, Natur und so fort – zur Absicherung bzw. Umsetzung jener Güter setzen können, auf deren Förderung wir uns im Rahmen demokratischer Aushandlungsprozesse geeinigt haben. Man befasst sich dabei nicht mit dem Einzelfall, sondern mit dem grossen Ganzen. Dadurch wird die Analytik mit Kreativität und Pioniergeist kombiniert. Diese Art der intensiven Auseinandersetzung mit gleichermassen breit wie tief angelegten Herausforderungen zum Ziel der Schaffung und Gestaltung von tragfähigen Lösungsansätzen für relevante Probleme ist für mich die schönste aller Beschäftigungen überhaupt. Insofern sehe ich das als einen grossen Vorteil einer akademischen Laufbahn. Ebenso reizvoll, wenn nicht sogar noch reizvoller, ist der Aspekt der Lehre. Die Didaktik sagt mir sehr zu. Mir gefällt es, das Recht so zu strukturieren, dass es für die Studierenden einfacher verständlich wird und es so zu vermitteln, dass auch andere eine Passion für die Materie entwickeln. Generell mag ich die Arbeit und den Austausch mit den Studierenden sehr.

 

Viele junge Jurist*innen versuchen, einen möglichst gradlinigen Lebenslauf vorzuweisen und Rückschläge oder Umwege zu vermeiden. Gab es in Ihrer Karriere unfreiwillige Umwege und falls ja, wie sind Sie damit umgegangen?

Grundsätzlich habe ich im Laufe meiner Karriere viele gute Erfahrungen gemacht mit faszinierenden, klugen und integren Menschen; mit Persönlichkeiten, die Wissenschaft und Lehre im fruchtbaren Kollektiv denken und nicht zuvorderst egoistisch ihre individuelle Machtposition ausspielen. Es gab aber auch Hindernisse im Sinne Ihrer Frage. Leider ist die akademische Laufbahn bis heute eine überaus riskante Karriere, welche mit einem hohen Grad an Unberechenbarkeit verbunden ist. Ungesicherte Assistenzprofessuren, wie ich sie jahrelang innehatte, sind leider auch heute noch oftmals die Norm. Dies bürdet jungen Talenten eine Unsicherheit und Abhängigkeit auf, aus der wiederum eine Ausnutzungsgefahr resultiert, die es meines Erachtens nicht geben sollte. Insbesondere die im Zusammenhang mit den Selektionsverfahren an den Universitäten kursierenden Narrative von "Exzellenz" und "Objektivität" müssen kritisch reflektiert und bescheidener resp. realistischer formuliert werden. Vielleicht sollten wir auch darüber nachdenken, neue Strategien zu ihrer Absicherung zu implementieren.

Gerade Berufungsverfahren sind oftmals von kontextfremden Rationalitäten beeinflusst. Wenn es bei den Bewerbungen eng wird, wird nicht selten die Frauenkarte gespielt – leider oft gegen die Frau. Denn sobald man in der Wissenschaft ernstzunehmende Konkurrentin für andere wird, wendet sich das Blatt. Im harten Wettbewerb wird gezielt auf die Frau gespielt, und das keineswegs nur von Männern, sondern auch von konkurrierenden Frauen. Dabei kommt also nicht unbedingt immer eine vermeintlich weitverbreitete Frauenfeindlichkeit zum Vorschein. Aber insbesondere dann, wenn es um Top-Positionen geht, entsteht ein harter Wettbewerb, bei dem auch und gerade in der Wissenschaft die mit dem Geschlecht verbundenen Rollenbilder und die faktischen Lebensrealitäten vieler Frauen sich als Achillesferse erweisen. Oft bleiben sie deswegen auf der Strecke. 

Natürlich kann ich dies nicht als objektive Tatsache mit universellem Geltungsanspruch darstellen; es sind meine sehr persönlichen Erfahrungen. Aber fest steht in jedem Fall, dass eine wissenschaftliche Karriere als Frau noch unberechenbarer als das Leben als solches ist.

Wie schwierig war Ihr beruflicher und wissenschaftlicher Weg und denken Sie, dass es als Frau schwieriger ist?

Lassen Sie mich zunächst frank und frei bekennen: Die Wissenschaft ist für mich faszinierend, da nimmt man damit verbundene Belastungen um der Sache willen in Kauf, auch als Mutter eines Kindes, die neben der Care-Arbeit stets auch Erwerbsarbeit geleistet und zusätzlich Forschungsarbeit betrieben hat. Dies sind die generellen Hürden für Frauen. Spezifische Schwierigkeiten auf dem beruflichen und wissenschaftlichen Weg treten dann zutage, wenn man als Frau beim Fortkommen mangelnden Respekt erleben muss und anachronistischen Konventionen unterliegt, die einen behindern. Dabei ist es wichtig zu sehen, dass Respekt gegenüber Frauen nicht immer (nur) eine Frage der Geschlechtergerechtigkeit ist, sondern oft (auch) eine Frage des Anstands und des Charakters. Angriffe werden verbrämt, kaschiert, vor Betroffenen verheimlicht, oftmals aus ganz profaner menschlicher Schwäche. Ob man nun in der Wissenschaft tätig ist oder in der Privatwirtschaft, das spielt dabei keine Rolle. Aus meiner eigenen Erfahrung kann ich Ihnen aber sagen: Es gibt ungeschriebene Gesetze, die man kennen muss, wenn man in der Wissenschaft Karriere machen will. Es reichen schon ein oder zwei Leute, welche die gelebte Kultur in einer Organisation zerstören können, verbunden mit weiteren Faktoren der Einrichtung. Dabei ist das Problem aufseiten derer, die unkontrolliert das Feld beherrschen, nicht fehlende Kompetenz oder Exzellenz, sondern vielmehr ein Mangel an Charakter. Mit Blick auf die Frauenfrage geht es also nicht immer nur um die formale Geschlechtergerechtigkeit, sondern am Ende auch immer um die Persönlichkeit und die Haltung der Handelnden. Sie müssen nicht nur aus Gründen der political correctness sagen, sondern wirklich verstehen, dass Frauen im wissenschaftlichen Konkurrenzkampf exponierter sind als Männer und von negativen strukturellen Effekten des Wissenschaftsbetriebes generell stärker und öfter betroffen sind – und sie müssen diese Einsicht in die Tat umsetzen. Hierfür bedarf es nicht wissenschaftlicher, sondern persönlicher Exzellenz: Man muss den Mut und die Courage haben, Missstände nicht nur zu benennen, sondern etwas zu unternehmen, um die Situation zum Besseren zu verändern.

Sie haben zum Adoptionsrecht promoviert. Ihre Dissertation hat zu einer Gesetzesänderung in der Schweiz geführt. Hatten Sie sich diesen Effekt beim Verfassen erhofft?

Nein, dass die eigene Arbeit einen solchen "societal impact" und Erfolg haben würde, wagt man nicht zu hoffen. Ich habe täglich meine Arbeit getan, wollte mit Hartnäckigkeit und jungem Forschergeist den Dingen auf den Grund gehen. Mein Ziel war, ein Adoptionsrecht vorzuschlagen, welches die bisher bestehenden Nachteile in Adoptionskonstellationen adressiert und das daraus resultierende Leid mindert. Die Schrift war also in erster Linie vom Geiste getragen, einen konstruktiven Beitrag zur Weiterentwicklung eines ambivalenten Instituts zu generieren. Dass die Arbeit sich unmittelbar auf die Schweizer Gesetzgebung auswirken würde, hätte ich nicht zu träumen gewagt. Zu wissen, dass meine Arbeit auf diesem Wege zu einer Verbesserung der Positionen von Parteien im Adoptionsprozess beigetragen hat, erzeugt natürlich aber ein grosses Gefühl der Befriedigung und Erfüllung und bedeutet mir ähnlich viel wie ein wissenschaftlicher Preis. 

Die Dissertation hat mir darüber hinaus später manch eine Türe geöffnet. Beispielsweise darf ich heute die im Auftrag des Bundesrates und des Bundesamtes für Justiz eingesetzte Arbeitsgruppe Internationale Adoption präsidieren.

Sie sind nicht nur Wissenschaftlerin und Berufsfrau, sondern auch Mutter einer 11-jährigen Tochter. Gab es Momente, in denen Ihnen die Doppel-, ja Dreifachbelastung auch einmal zu viel wurde?

Dass ein solches Lebensmodell mit enormen Arbeitslasten verbunden ist und viel Energie kostet, anstrengend ist, steht ausser Frage. Nun, da meine Habilitationsschrift publiziert und das Verfahren durchlaufen ist, sich die berufliche Situation konsolidiert und meine Tochter langsam ihre Flügel ausbreitet, frage ich mich rückblickend schon manchmal, wie ich diese vielen grossen und verantwortungsvollen Aufgaben, die ganz unterschiedliche Kompetenzen erfordern, parallel gestemmt habe. Ich fing meist um 4 Uhr morgens mit der Arbeit an, während meine Tochter noch schlief. Natürlich gab es Phasen, in denen ich am Limit lief, und die Entscheidung dafür, der Zeit mit meiner Tochter angemessenen Raum in meinem Leben einzuräumen, hat gewiss die Dauer für die Fertigstellung der Habilitationsschrift beeinflusst. Ich habe diese Entscheidung aber nie bereut. Es stand auch zu keinem Zeitpunkt in Frage, dass ich die Habilitation zu Ende schreiben würde. Natürlich war es viel. Aber ich sehe es so, dass mir dadurch ein überaus vielfältiges Leben beschert wurde, in dem keines der mir wichtigen Lebensfelder brachliegen musste. Wenn ich heute auf das Buch und mein Kind schaue, bin ich in beiderlei Hinsicht sehr glücklich und stolz.

 

Was können Sie jungen Jurist*innen in Bezug auf Familienplanung mit auf den Weg geben?
Vorab muss ich sagen, dass ich die Vorstellung einer strikten Trennung von öffentlich und privat für gleichermassen fiktiv wie problematisch halte. Die gesellschaftlichen Sphären des Lebens sind fluid; sie überlappen sich. Abgesehen davon ist die Frage nach Beziehungs-, Lebens- und Familienformen, die Kinderfrage sowie die Familienplanung natürlich eine sehr persönliche, individuelle, intime Frage; insofern liegt es mir fern, hier Ratschläge zu erteilen. Vielleicht ist eine Ermunterung aber nützlich: Suche und finde Deinen Weg, wie er sich in Deine Biografie einbettet, wie er Dir und Deinen Prioritäten, Wünschen, Visionen, Ambitionen entspricht. Arbeite und setze Dich unermüdlich ein. Bring Dich überall ein, wo es Dir wichtig ist. Sei mutig, konventionelle Erwartungen herauszufordern. Gestalte, soweit es in Deinen Händen liegt, Deinen individuellen Lebensweg und forme Dein ganz persönliches Profil und Portfolio. Sei kreativ. Und ein Tipp: Sprich offen und früh mit Deinem Partner/Deiner Partnerin über Erwartungen und Wünsche, insbesondere mit Blick auf die Aufteilung der verfügbaren Ressourcen bezüglich Kinderbetreuung, Hausarbeit und Erwerbsarbeit. Wenn Du eine Familie gründen willst, sind der Rückhalt und die Beiträge Deines Partners/Deiner Partnerin von nicht zu unterschätzender Bedeutung für das berufliche Fortkommen. Das gilt für beide Geschlechter, für Frauen und Mütter aufgrund der nach wie vor bestehenden strukturellen Benachteiligungen aber natürlich ganz besonders.
Man spricht immer viel davon, inwiefern Arbeitgeber Eltern dabei unterstützen können, neben ihrer Rolle als Eltern beruflich erfolgreich zu sein. Welche Unterstützung sollten Eltern an der Universität erfahren?
Meiner Meinung nach braucht es dringend Tenure-Track-Positionen für den Nachwuchs. Das wissenschaftliche und didaktische Talent zeigt sich früh, aber nicht alle sind gleichermassen geeignet für diese Karriere und die damit verbundenen Posten. Daher sollte gezielter auf die Spitzentalente gesetzt werden.
Zudem muss daran gearbeitet werden, Karrierewege berechenbarer zu machen, und die politischen "Spiele" müssen durchbrochen werden. Was ich damit meine, ist, dass es Instrumente braucht, mit denen verhindert werden kann, dass persönliche Vorlieben oder Kumpaneien resp. Seilschaften entscheiden.
Wichtig ist auch, Personen Vertrauen zu schenken und ihnen den nötigen Freiraum zu geben, um sich frei entfalten zu können. Zugleich sollten Arbeitgeber sich aber auch überlegen, wie sie mit Foulspielern umgehen.
Dies ist der Teil, der institutionalisiert werden kann. Wie gesagt lässt sich aber nicht alles auf sanktionierbare Regeln herunterbrechen. Oft kommt es auf den Charakter, die Persönlichkeit und die Haltung an. Dabei geht es nicht nur um Personen in Führungspositionen. Alle, die an der Universität arbeiten, müssen sich bewusst sein, dass sie eine Vorbildfunktion nicht nur für die Studierenden, sondern auch für alle anderen haben. Daher sollten Integrität, Kollegialität, Fairness, Anstand und Wohlwollen überall im Vordergrund stehen. 
Darüber hinaus muss man anderen etwas gönnen können und wollen. Das gilt im Leben ganz generell, aber auch mit Blick auf die Wissenschaft kann man sagen, dass sie nicht funktioniert, wenn man kleinlich ist. In diesem Sinne würde ich sagen, dass jede Person einen Beitrag leistet, damit Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gerne zur Arbeit gehen.

Was hätten Sie sich gewünscht?

 

Kurz gesagt mehr ehrliche Objektivität, soweit möglich, und weniger Machtmissbrauch. Was ich meine, ist Folgendes: Natürlich habe auch ich mich oft gefragt, weshalb wissenschaftliche Institutionen unsachliche Verhinderungsmanöver gegenüber Frauen überhaupt zulassen. Lassen sie mich die Antwort in einem schlichten Wunsch formulieren: Bei Frauenthemen braucht es weniger Angepasstheit und mehr Mut resp. Courage. Eine förderliche Kultur darf nicht bloss auf dem Papier existieren, sondern sie muss im Alltag mit Leben gefüllt werden. Zu erkannten Missständen zu schweigen, ist bequem, aber es schadet aufstrebenden Wissenschaftlerinnen und damit dem Wissenschaftsbetrieb insgesamt. Die Losung "Reden ist Silber, Schweigen ist Gold" passt hier also nicht.

 

Vor dem Hintergrund meiner zum Teil auch bitteren Erfahrung würde ich, anstatt Wünsche zu formulieren, jungen Wissenschaftlerinnen, die eine akademische Karriere anstreben, lieber die folgenden drei Dinge mit auf den Weg geben:

1. Formuliere klare Bedingungen für Deine wissenschaftliche Karriere und stehe für Deine Anliegen und Visionen sowie für Deinen eigenen Weg resp. Deine eigene Art und Weise des wissenschaftlichen Arbeitens ein.

2. Soweit es in Deiner Hand liegt, sorge dafür, dass Du auf dem Boden stabiler familiärer und persönlicher Beziehungen agieren kannst, welche Dich tragen und unterstützen.

3. Halte bei allem Optimismus und aller Zuversicht einen Plan B bereit. Wissenschaftliche Karrieren sind unberechenbar – für Frauen erst recht und ganz besonders dann, wenn es um Spitzenpositionen geht.

Sie engagieren sich neben Ihrer beruflichen Tätigkeit für Struktur*elle – eine Initiative, die sich dafür einsetzt, Unternehmen beim digitalen, demografischen und ökologischen Wandel zu unterstützen und dabei insbesondere die Position von Frauen zu fördern. Wie sind Sie zu dieser Initiative gekommen?

 

Über den Berufsverband "Juristinnen Schweiz". Dort habe ich Maya Dougoud kennengelernt, mit der ich nunmehr für Struktur*elle das Co-Präsidium halte. Wir wollten zusammen etwas Neues, Wirkungsstarkes auf die Beine stellen. Momentan ist bei uns das Thema Gleichstellung an den Universitäten aktuell, das vor allem bei Akkreditierungen enorm wichtig ist. Leider kommt die Gleichstellung noch immer eher im Schneckentempo voran. Um sie in Institutionen schneller voranzutreiben, ist es wichtig, dass eine Person auf Führungsebene sich diesem Thema annimmt und dafür einsetzt. Nach meiner Erfahrung kann die Gleichstellung nur so effektiv vorangetrieben werden.

Würden Sie jungen Jurist*innen empfehlen, sich neben dem Studium oder auch neben dem beruflichen Alltag für Initiativen zu engagieren?

 

Unbedingt! In verschiedenen Bereichen tätig zu sein, ist überaus bereichernd. Denn man lernt die Komplexität kennen, die für viele Bereiche prägend ist, und eignet sich dabei diverse Kompetenzen an, die man im Berufsalltag vielleicht nie brauchen und somit nie erlernen würde. Dies hat wiederum Hebeleffekte. Beispielsweise lernt man, Strategien zu entwickeln, zu überprüfen, anzupassen und weiterzuentwickeln. Sich in verschiedenen Tätigkeitsfeldern zu bewegen und zu engagieren, hat einen grossen Einfluss. Es ist auch schön, da es sich um ein Geben und Nehmen handelt.

Welche Juristin hat Sie so inspiriert, dass sie als Vorbild für breaking.through nominiert werden sollte und wieso?

 

Ruth Bader Ginsburg war eine bemerkenswerte Juristin, die mich sehr inspiriert hat. Besonders geprägt hat mich ihre Haltung zur Arbeit mit Blick auf die Gesellschaft: «If you want to be a true professional, you will do something outside yourself. Something to repair tears in your community. Something to make life a little better for people less fortunate than you. That’s what I think a meaningful life is – living not for oneself, but for one’s community

Vielen Dank für das Gespräch und die Zeit, die Sie sich dafür genommen haben!

Zürich, 19. Dezember 2022. Das Interview wurde geführt von Audrey Canova.

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